Warum du dich in Zeiten von Corona so unbehaglich fühlst

Ich sitze zu Hause, in unserer Wohnung in Tokyo, in der Hand mein Handy, in den Ohren meine kabellosen Kopfhörer. Ich telefoniere mit meinen Freunden in der Schweiz. Ich rede und lache. Vor mir eine weisse Wand, die sich nichts aus meinen freudigen Gesichtszügen macht. Mein Sohn hüpft vor mir auf und ab und versucht immer wieder mein Handy aus meiner Hand zu reissen. Ich lasse meine Hand immer wieder in die Höhe springen, um den greifenden Händen meines Sohnes auszuweichen und, um noch ein bisschen länger meine sozialen Kontakte zu pflegen. 

Wir schreiben das Jahr 2021, kalter Januar. Seit Beginn der Pandemie ist schon ein Jahr vergangen. Europa wird gerade von einer weiteren Corona-Welle erfasst, während wir hier in Japan noch einigermaßen glimpflich davonkommen. Meine Freunde und Familie in der Schweiz berichten mir von den Auswirkungen der Pandemie auf ihr Leben: 

Edna*, eine erfolgreiche Künstlerin, hatte 2020 eigentlich geplant mit dem Schiff nach Amerika zu fahren. Chicago, Mexiko, einmal um die Welt und dann nach Prag. Stattdessen genoss sie die archaische Landschaft in den Schweizer Bergen. Im Vergleich zu anderen Künstler_innen habe sie das Glück, dass sie ihre Uni-Jobs habe, sagt sie. Ihr geht es vergleichsweise gut.

Angelica*, Krankenschwester, beschreibt mir den anstrengenden Spitalalltag und wie sich durch Krankheitsausfälle beim Personal langsam aber sicher Erschöpfung einstellt.

Meine Mutter beschwert sich, dass wir soweit weg sind und sie uns nicht besuchen kann. Sie vermisst ihren Enkelsohn.

Ich wäre gerne über Weihnachten in die Schweiz gereist, um meine Freunde und Familie zu besuchen, habe es dann aber gelassen, weil mir wiederholte Corona-Tests und Quarantäne zusammen mit einem Zweijährigen zu anstrengend waren. 

Wir sind alle guter Dinge, und doch, wünschen wir uns unser altes Leben zurück. Die Pandemie wirkt sich auf die Psyche der Menschen aus. Sie bedroht wichtige menschliche Grundbedürfnisse, wie soziale Beziehungen oder Sicherheit. Wir versuchen uns mit den Worten aufzumuntern, dass es uns im Vergleich zu anderen noch einigermassen gut geht. Und doch, hätte sich das niemand freiwillig ausgesucht. Niemand wünscht sich die sogenannte ‘neue Normalität’, die alles andere als Normalität darstellt. 

 

Das Unbehagen, das viele während der Pandemie spüren, ist Trauer. Trauer ist eine emotionale Erfahrung, durch die Verlust verarbeitet wird und man sich an Veränderung anpasst. 

Die Auswirkungen der Pandemie verursacht viele verschiedene Arten von Trauer. Erstens spüren wir, dass sich die Welt verändert hat. Wir wissen, dass dies nur vorübergehend ist, aber es fühlt sich nicht vorübergehend an und wir erkennen, dass die Dinge auch in Zukunft anders sein werden. Wir erfahren kollektive Trauer um den Verlust von Normalität und unseren gewohnten Routinen. Wir passen uns an die abnorme ‘neue Normalität’ an. 

Zweitens trauern wir um den Verlust aller verpassten Erfahrungen und Chancen im ganzen letzten Jahr. Meine Freundin konnte sich nicht auf ihre Weltreise begeben, ich kann seit längerem meine Familie nicht besuchen, Arbeitsverlust, Isolation, usw. 

Drittens erfahren wir vorausschauende Trauer, welche sich auf die ungewissen zukünftigen Verluste bezieht, die uns möglicherweise noch bevorstehen. Wie lange werden die Massnahmen noch andauern? Wie viele Lockdowns wird es noch geben? Werden ab jetzt die Masken im Gesicht das neue Strassenbild prägen? Was werden die wirtschaftlichen Auswirkungen sein? 

Unsicherheiten und Verluste auf so vielen Ebenen. 

 

Nach der schweizerisch-US-amerikanischen Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross, durchlaufen Trauernde fünf Trauerphasen: Leugnen, Wut, Feilschen und Verhandeln, Traurigkeit und Annahme: 


Leugnen
“Dieser Virus betrifft uns nicht.”, “Diesen Virus gibt es nicht.”.


Wut 
“Die Massnahmen sind unverhältnismässig und schränken unsere Grundrechte unnötigerweise ein.”, “Ihr zwingt mich dazu, zu Hause zu bleiben und verbietet mir meine Aktivitäten.”.


Feilschen und Verhandeln
“Wenn ich mich zwei Wochen an die Social Distancing Regeln halte, wird alles besser.”, “Der Virus ist nicht gefährlicher als eine Grippe.”. 


Traurigkeit
“Ich vermisse meine Freunde und Familie.”, “Kein Ende ist in Sicht.”. 


Akzeptanz
“Ich muss für mich herausfinden, wie ich mit den Massnahmen umgehen kann.”, “Welche Massnahmen kann ich zur Verbesserung der Situation treffen?”, “Ich kann meine Hände waschen.”, “Ich kann einen sicheren Abstand halten.”, “Ich kann lernen, virtuell zu arbeiten.”, “Ich kann meditieren, lesen, Musik hören und Yoga machen damit es mir besser geht.”.

Diese Phasen sind kein linearer Prozess und müssen nicht zwangsläufig nacheinander ablaufen. So kann es sein, dass Betroffene eine Phase überspringen, eine Phase nicht durchleben oder in eine Phase zurückfallen. Das Kennen dieser fünf Phasen kann dabei helfen, das eigene Erleben besser einzuordnen und mit der Trauer besser umgehen zu können. 

Eine weitere Herangehensweise den Trauerprozess zu bewältigen, wird von Margaret Stroebe und Henk Schut beschrieben. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, sich der Trauer und den Emotionen stellen zu müssen, um die Trauerarbeit abzuschliessen, ist im ‘dualen Prozessmodell der Bewältigung’ von Stroebe und Schut nicht nur die Konfrontation mit negativen Gefühlen und Trauer, sondern auch deren Vermeidung nötig, um Trauer erfolgreich überwinden zu können. Das ‘duale Prozessmodell der Bewältigung’ besteht aus zwei verschiedenen Orientierungen: Die ‘Verlustorierung’, die sich mit der Verlusterfahrung selbst befasst (z.B. Weinen, Sehnen nach dem Leben vor Covid-19) und der ‘Wiederherstellungsorientierung’, die sich mit der Anpassung an das Leben als sekundäre Folge des Verlustes befasst (z.B. Reorganisation des Lebens, Entwicklung neuer Routinen).

Nach diesem Modell ist für die Bewältigung von Trauer ein Hin und Her zwischen Verlustorierung und Wiederherstellungsorientierung, von Vermeidung und Konfrontation, erforderlich. Manchmal kann es zum Beispiel zu schmerzhaft sein sich negativen Gefühlen zu stellen, weshalb Vermeidung zu diesem Zeitpunkt besser für das eigene Wohlbefinden ist. Zu anderen Zeiten hilft die Konfrontation mit negativen Gefühlen die Trauer zu verarbeiten und zu bewältigen. Eine Balance zwischen Konfrontation und Vermeidung ermöglicht es, auch während dem Trauerprozess die Stabilität zu finden, die benötigt wird, um mit dem Alltag und das, was in Zukunft auf uns wartet, umgehen zu können. 

 

Wenn man an die ungewisse Zukunft denkt, kann das Angst machen. Wie wird das Jahr 2021 aussehen? Wie viele Lockdowns müssen wir noch aushalten? Wird die Impfung die erhoffte Erlösung bringen? Bilder tauchen vor dem inneren Auge auf, das Herz klopft, es wird heiss und kalt, man schwitzt. Angst vor dem Virus, vor der Staatsgewalt, oder vor weiteren einschränkenden Massnahmen wirken lähmend. In so einem Zustand kann es helfen, in die Gegenwart zu kommen: Nenne fünf Gegenstände, die du im Raum sehen kannst. Was kannst du riechen? Was kannst du fühlen? Atme. Realisiere, dass im gegenwärtigen Moment deine Bilder noch nicht eingetroffen sind. In diesem Moment geht es dir gut. Du hast Essen. Du bist nicht krank.

Die Ereignisse während Covid-19 haben uns daran erinnert, dass wir nicht alles in unserem Leben kontrollieren können. Aber es gibt Dinge, die wir tun können, um besser mit den emotionalen Auswirkungen umgehen zu können. Wenn du zum Beispiel Kontrolle für die Dinge übernimmst, die du kontrollieren kannst, hilft das, Stress zu reduzieren. Lass los, was du nicht kontrollieren kannst, und konzentriere dich auf das, was du kontrollieren kannst. 

Manchmal kann es helfen, dir Zeit zu nehmen, um dir deinen Gefühlen bewusst zu werden und sie zuzulassen. Alle Gefühle sind erlaubt und haben ihre Berechtigung. Sage nicht: “Ich bin traurig, aber eigentlich darf ich das nicht fühlen, weil anderen geht es schlechter.”. Sage: “Ich bin traurig und ich brauche jetzt fünf Minuten für mich.”

Wenn es dir Mühe bereitet, dich in der derzeitigen Lage zurechtzufinden oder du das Bedürfnis verspürst, dich in einer urteilsfreien Umgebung mit jemandem auszutauschen, kannst du hier dein erstes unverbindliches online Kennenlerngespräch mit annahasepsychologie buchen.

Solltest du dich über längere Zeit niedergeschlagen fühlen und intensives Leid, wie Traurigkeit, Wut, Verleugnung, Schuld, Schwierigkeiten die aktuelle Situation zu akzeptieren, oder anderen emotionalen Schmerz verspüren, besteht der Verdacht auf eine anhaltende Trauerstörung. Du solltest dann so bald wie möglich eine Ärztin oder Psychotherapeutin in deiner Nähe kontaktieren.